Das Schicksal kommt in Wellen

„Welches Jahr haben wir gerade?“ – Lange Nacht der Autorinnen bei den Autorentheatertagen Berlin

Mancher wird ihn kennen: den Albtraum, unter Wasser zu sein und nicht an die Oberfläche zu können, von einem farblosen Deckel von der Außenwelt getrennt, alle Geräusche gedämpft. Dass einem beim Betreten der Box des Deutschen Theaters (Bühne: Marie-Luce Theis) gerade dieses Bild des Abstrampelns in einem feindlichen Element einfällt, ist kein Zufall. Wir befinden uns im Becken eines Schwimmbades, und angesichts des kaum vorhandenen Abstands zwischen „Beckenrand“ und Boxdecke stellt sich schnell eine gewisse Klaustrophobie ein.

„Welches Jahr haben wir gerade?“ ist einer der drei Siegertexte der diesjährigen Autorentheatertage, der in einer Koproduktion mit dem Schauspielhaus Zürich uraufgeführt wurde. Regie führt Mélanie Huber. Der iranischstämmigen Autorin Afsane Ehsandar ist ein sehr bewegender Zugang zur Frage der Flucht gelungen – ein Thema, das traurigerweise gerade in Mode ist. „Ein Drama über die Unmöglichkeit, Unaussprechliches auszusprechen. Gegen unseren Anspruch, es immer ganz genau wissen zu wollen. Gerade in der Verweigerung wird das Schreckliche spürbar“, begründet die Jury ihre Entscheidung zu dem Text. Und das ist sehr treffend beschrieben.

Die posttraumatische Verwirbelung des bekannten Gefüges

„Heute morgen bin ich durchgedreht“ erzählt eine unbekannte Frau einem unbekannten Mann. Sie scheinen zu telefonieren, er scheint mit ihr den Umgang mit den Behörden des fremden Landes zu üben. Scheint? Wer nach einem Handlungsstrang sucht wird ebenso leer ausgehen wie der Zuschauer, der gerne alles versteht. Denn so funktioniert das nicht. Dass es sich um eine Form von Trauma handeln muss, die die Protagonistin durchgemacht hat, versteht man wiederum schnell. Bruchteile von Erlebtem erzählt Sie, von zwei Darstellerinnen verkörpert, was noch mal die innere Zerrissenheit auf behutsame Weise hervorhebt. Es ist kein Spiel gegeneinander. Man fühlt, dass das doppelte „Ich“ so gerne am gleichen Strang ziehen würde, es aber aus Überforderung einfach nicht schafft. Ganz so verhält es sich auch mit dem Bezug zur Realität. Posttraumatisch wird alles umhergewirbelt, Gegenwart und Vergangenheit, Wahrheit und Einbildung, Spaziergang in der vermeintlich sicheren neuen Heimat und nackte Erniedrigung im Kachelgefängnis auf der Flucht.

Von Ackerbohnen und Majoran

Die bekannten Ankerpunkte sind weg und da ergeht es dem Zuschauer auf der Suche nach bekannten dramaturgischen Mustern ganz wie der Protagonistin. Diese sucht nach Verbotsschildern, die sie nicht findet. Zieht sich aus, um sich der Umgebung einer FKK-Kolonie anzupassen und nicht aufzufallen, gerät dabei jedoch in Konflikt mit einer Gruppe jugendlicher Muslime. Sie versteht wenig, gehört nirgends so richtig dazu, trägt schrechliche Erlebnisse mit sich herum: Das Trauma am eigenen Leib begegnet dem Trauma der seelischen Verformung in dem Bestreben, sich einer neuen Welt anzupassen.

Die sehr musikalische Inszenierung (Komposition: Martin von Allmen) setzt dabei immer wieder mehrstimmige Akzente, die einzelne Sätze wiederholen sich und wirken wie das verzweifelte Festhalten an starren Inseln in einer glitschigen Umwelt. „Ackerbohnen und Majoran“ trällert Er, zu halborientalischen Klängen, als Ode an eine vergangene, bodenständige Zeit vor dem Kontrollverlust.

Fahrradflicken für die Hoffnung

Roter Faden der fast meditativen 45 Minuten ist szenisch vor allem die Schlauchreparatur eines klapprigen Fahrrades, die die zwei Darstellerinnen abwechselnd nach allen Regeln der Kunst, durchführen. Fahrradfahren gehört in der Heimat der Autorin zu den vielen Aktivitäten, die Frauen verwehrt ist. Mittlerweile wird es sogar als Mittel des Protestes gegen die repressive Regierung eingesetzt. Ein schönes Symbol also, das fast beiläufig zeigt, wie das Handeln in einer gewissen Weise die ersten Spuren der seelischen Heilung mit sich bringt und doch eine Brücke zur Vergangenheit immer vorhanden ist.

Beitragsbild:
Raphael Hadad/Schauspielhaus Zürich

 

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