Kultur bewerten wie Staubsauger?

Rod Schmid ist Gründer von livekritik.de, einem Rezensionsportal für Kulturveranstaltungen, auf dem Zuschauer und Besucher eigene Kritiken veröffentlichen.
Mit 100.000 Besuchen im Monat hat es sich neben journalistischen Angeboten wie z.B. nachtkritik.de etabliert. Im Interview spricht Schmid über die Demokratisierung von Kulturkommunikation.

Herr Schmid, mit livekritik.de haben Sie dem Kulturpublikum eine Stimme gegeben.

Bewertungsportale sind in vielen Wirtschafts- und Lebensbereichen längst eine Selbstverständlichkeit. Im Bereich der Kultur gibt es professionell-journalistische Angebote aber keine Plattform, bei der es um den Austausch von Besuchern miteinander geht.

Rod Schmid gründete 2012 ein Portal für Zuschauer-Rezensionen. (Foto: livekritik.de)

Rod Schmid gründete 2012 ein Portal für Zuschauer-Rezensionen. (Foto: livekritik.de)

Ändert sich damit etwas in der Kultur?

Bisher war es doch in etwa so: Der Intendant eines Theaters bestimmt was gespielt wird und der FAZ-Journalist urteilt am Ende darüber ob ein Stück anspruchsvoll genug ist oder nicht. Nun wird der Zuschauer erstmals zum Akteur und zum Gesprächspartner und damit trägt unser Portal zur Demokratisierung der Kulturkommunikation bei.

Und niemand moderiert dieses Gespräch?

Unser Ansatz ist ein anderer. Wir möchten nicht, dass mutmaßlich kompetentere oder intelligentere Leute vorher prüfen ob das, was ein Besucher sagt, schlau genug ist. Wir publizieren, was die Leute empfinden, meinen und denken. Wenn das in den Augen mancher nicht besonders intelligent ist oder zu persönlich, dann ist es eben so. Etwas anderes sind Beleidigungen oder falsche Tatsachenbehauptungen. Solche Beiträge können gemeldet werden und werden von uns entfernt. Das ist bislang aber noch nicht passiert.

Brauchen Texte nicht eine gewisse Qualität, damit das Lesen Freude macht?

Unsere User bewerten sich gegenseitig. Sie stufen eine Rezension als hilfreich oder nicht hilfreich ein und voten damit die Texte, die ihnen gefallen haben, nach vorne. Schwächere Kritiken verschwinden aus dem Blickfeld. Somit überlassen wir die Entscheidung darüber was Qualität ist nicht einer Jury oder Redaktion, sondern der Community. Gibt ein Nutzer bestimmte Interessen an, wird die Anzeige dementsprechend angepasst. Ganz anders also als bei einer Zeitung, wo Redakteure darüber entscheiden, was auf Seite eins, auf Seite drei oder gar nicht erscheint.

Welcher Nutzen ergibt sich aus Ihrem Portal für Kulturanbieter?

Die eigenen Kunden und Besucher zu Botschaftern zu machen, sollte die Hauptaufgabe eines jeden Unternehmens sein. Denen, die bereits von einem Produkt überzeugt sind, muss die Möglichkeit gegeben werden, öffentlich darüber zu reden. Auch im Kulturbereich ist es wirksamer als eine Werbeplatzierung, wenn Besucher authentisch und glaubwürdig berichten, was sie empfunden haben.

Der Kunde als Botschafter: livekritik.de gibt dem Kulturpublikum eine Stimme.

Der Kunde als Botschafter: livekritik.de gibt dem Kulturpublikum eine Stimme.

Haben die Häuser die Kraft des Empfehlungsmarketings durch User Generated Content bereits erkannt?

Die meisten Marketingverantwortlichen haben das erkannt und viele Häuser arbeiten deshalb gerne mit uns zusammen, weil sie so die unkomplizierte Möglichkeit haben, Besucherstimmen einzufangen und zu nutzen. Über Widgets lassen sich die Rezensionen, die auf livekritik.de erschienen sind, ganz einfach in den eigenen Seiten einbetten. Häuser wie das Berliner Kriminaltheater oder die Komödie am Kurfürstendamm nutzen diese Möglichkeit effektiv.

Das sind private Theater.

Kulturredaktionen werden zusehends abgebaut. Das heißt, es finden allein schon aus kommerziellen Gründen für viele Theater, Inszenierungen oder Konzerte wenige oder gar keine Besprechungen mehr statt. Wenn diese Theater und Inszenierungen nicht im Internet und der Öffentlichkeit vorkommen, können sie keine neuen Besucher generieren. Insofern ist es gerade für kleinere oder private Häuser sehr wichtig, dass sie von ihren Besuchern besprochen werden.

Und die öffentlichen?

Öffentliche Theater beteiligen sich besonders gern an partizipativen Projekten und Echtzeitkommunikationsevents, wie z.B. Tweetups aus dem Theatersaal. Das Verständnis dafür, dass ich meine Besucher begeistern, dauerhaft binden und konstant attraktive Angebote schaffen muss, ist bei vielen Privattheatern jedoch ausgeprägter.

Was kann livekritik.de besser als z.B. das Zeitungsfeuilleton?

Da muss man differenzieren. Habe ich sehr viel Zeit, etwa an einem Sonntag-Vormittag, kann ich mit Genuss eine Theaterrezension in der Zeitung lesen und mich daran erfreuen, selbst wenn ich das Theaterstück gar nicht sehen möchte. Dann gibt es da aber auch den anderen Fall: Angenommen ich sitze in Berlin in der S-Bahn und überlege mir spontan, dass ich heute Abend ins Theater oder ins Kabarett gehen möchte. Dann brauche ich dafür eine schnelle Entscheidung. An dieser Stelle hilft mir die Kritik aus der ZEIT oder der Süddeutschen Zeitung relativ wenig. Die meisten unserer Rezensionen geben vielleicht keinen Überblick über alle Aspekte einer Inszenierung, über aktuelle Debatten oder Theatertheorien, aber einen authentischen Eindruck davon wie der Einzelne ein Stück für sich erlebt hat.

Daumen hoch oder runter: Kulturkommunikation 2.0? (Foto: bykst/pixabay.com)

Daumen hoch oder runter: Kulturkommunikation 2.0? (Foto: bykst/pixabay.com)

Ist es nicht denkbar, dass eines Tages auch kulturpolitische Artikel von Bürgerjournalisten auf livekritik.de erscheinen?

Das Potential ist definitiv da. Aber als Unternehmer muss ich eine klare Marke kommunizieren. Livekritik.de ist ein Empfehlungsportal für Kulturveranstaltungen. Dass daraus mehr entstehen kann sehe ich, aber im Moment fokussiere ich mich darauf nicht.

Stoßen Sie denn mit Ihrer Idee nur auf offene Ohren?

Es gibt natürlich diesen klassisch-elitären Kulturbegriff, der in Deutschland noch immer vorherrschend ist. Offenbar besteht in Teilen der kulturpolitischen Szene eine große Angst davor, dass etwas Falsches geschrieben wird, dass sich der Bürger äußert, ohne von einer höheren Instanz bewertet und kontrolliert worden zu sein. Die Chancen, die das mit sich bringt, werden dabei übersehen.

Zum Beispiel?

Es ist entscheidend, dass Theater, Veranstalter und Konzerthäuser frühzeitig ihr Publikum einbinden, damit die Kultur überhaupt anschlussfähig bleibt. Öffentliche Theater zum Beispiel haben den Auftrag, jeden Menschen anzusprechen und mit Themen zu begeistern. Insofern ist es allein aus dem Selbsterhaltungstrieb der Kulturszene heraus wichtig, neue Wege zu beschreiten.

Dem Berliner Tagesspiegel zufolge bemerkte einst Esther Slevogt, Kritikerin und Mitgründerin von nachtkritik.de: „Es macht einen Unterschied, ob Sie ein fundiertes Urteil fällen oder etwas bewerten wie einen Staubsauger.“

Etwas provokant gesagt: Warum nicht die Kultur ein bisschen runterholen und auch mal bewerten wie einen Staubsauger? Wer traut sich denn heute einen Kommentar zu moderner Kunst zu hinterlassen? Zu sagen und zu bewerten, was man sieht? Wenn wir das den Eliten überlassen, sind ganz viele Leute für das Thema Kunst und Kultur verloren und werden sich auch nicht mehr dafür interessieren.

 

Hinweis: Von Oktober 2014 bis März 2015 war die Autorin als leitende redaktionelle Mitarbeiterin bei livekritik.de tätig. Das Interview wurde im Juni 2014 zu Recherchezwecken für ihre Masterarbeit „Das Volk, der Kritiker?“ geführt.

 

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