Beinahe zufällig lande ich an einem Freitag Abend im April im Soho Theatre. Ich befinde mich auf einer Reise durch England und mache gerade Halt in London. Ich möchte eine Bekannte treffen, die für das britische Theatermagazin Exeunt schreibt. Sie schaut sich heute Abend „Lampedusa“ an und fragt, ob ich mitkommen wolle. Ich habe Zeit, bin neugierig. Ich weiß zwar nicht genau worum es gehen wird, aber der Titel lässt auf irgendwas mit Flüchtlingen schließen. An der Abendkasse gibt es noch eine Karte und so sitze ich Minuten später im dritten Stock des Theaters in der Dean Street.
Mitten in das Geschnatter in der kleinen, runden Studiobühne donnert plötzlich eine männliche Stimme. Stefano (Ferdy Roberts) erhebt sich von seinem Platz im Publikum. Während er von seinem Job erzählt, schaut er uns tief in die Augen. Er lebt auf Lampedusa und war einmal ein Fischer, so wie sein Vater und dessen Vater. Doch heute, da ist sein Fang ein anderer. Stefano fischt Leichen aus dem Mittelmeer. Das kühle Wasser konserviere die Körper zunächst, sagt er. Doch sobald man einen von ihnen zu greifen versuche, sei es, als glitte einem eine alte, ölige Tüte durch die Finger. 3000 Tote hat der Leichenfischer allein im letzten Jahr aus dem Meer geborgen. „They keep coming and coming and won’t stop.“
Schlagzeilen sind Schicksale
Da wird mir plötzlich schlecht. Die Nachricht, dass Jürgen Klopp sein Amt als Trainer des BVB niederlegt, bestimmt gerade die deutschen Medien. Doch da war doch noch eine andere Schlagzeile? Irgendwas mit 400 toten Flüchtlingen? Und dann bin ich dankbar. Dankbar, dass ich an diesem Ort, in diesem Stück gelandet bin. Dankbar dafür, dass Theater immer auch ein Moment des Innehaltens ist. Durch Stefano werden die Schlagzeilen um Lampedusa zu einer Geschichte, zu einem menschlichen Schicksal – und damit erfahrbar.
In Leeds verdient Denise (Louise Mai Newberry) ihre Brötchen als Schuldeneintreiberin für eine pay day loan company. Diese kurzfristigen Kleinstkredite werden zu horrenden Zinsen an finanzschwache Kunden vergeben, die nicht wissen, wie sie sich bis zum nächsten Monatsgehalt über Wasser halten sollen. Die junge Halbchinesin wird täglich Zeugin von Armut und sozialer Ungerechtigkeit auf der einen und wachsenden Ressentiments gegenüber Migranten auf der anderen Seite. Erst kürzlich, da wurde Denise im Bus angespuckt. Dabei ist sie in England geboren. Sie arbeitet hart, studiert noch nebenbei und kümmert sich um ihre kranke Mutter, die vom Pflegepersonal im Krankenhaus rüde als „bedblocker“ bezeichnet wird.
Worte wie gespitzte Pfeile
In den beiden verwobenen Monologen trieft der Sarkasmus aus allen Zeilen. Wie gespitzte Pfeile schießen Stefano und Denise ihre Worte dem Publikum entgegen. Während es bei ihr wohl der typisch britische Galgenhumor ist, ist er längst traumatisiert. Die Toten suchen ihn nachts heim, rauben ihm den Schlaf. Und doch fährt er immer wieder raus aufs Meer. Stets in der Hoffnung, wenigstens ein paar Überlebende zu finden.
Der Autor Anders Lustgarten findet oft eine faszinierende, malerische Sprache. Stefano lässt er über die Flüchtlingsboote sagen: „When they enter the blue desert, they disappear.“ Während der Fischer die Geschichte von Modibo erzählt, der sehnsüchtig darauf wartet, dass die blaue Wüste seine Frau Aminata freigibt, hänge ich gebannt an seinen Lippen. Mit einer Taschenlampe leuchtet er uns in die Gesichter, während ein kleines Schiff an einer Kette von der Denke hängt und bedrohlich hin und her schaukelt. Beinahe kann ich den Seegang selbst spüren.
„Why are people kind?“
Das Stück endet für beide in Momenten rührender Nächstenliebe. „Why are people kind?“ fragt Denise zum Schluss. Und ich möchte hinzufügen: „Why do people care?“ Was muss geschehen, damit wir aktiv werden?
Ich bin inzwischen weiter gereist. Diese Zeilen schreibe ich in Bristol. In der Nacht zu Sonntag ist erneut ein Boot im Mittelmeer gesunken. 700 Tote werden befürchtet. Es ist eine Schlagzeile zwischen vielen. Irgendwas mit Flüchtlingen.