Wofür braucht der Mensch Eier? Für ein Omelett? Einen Kuchen? Auch. Vor allem aber braucht man Eier offensichtlich zum Toreschießen. Diesem und weiteren merkwürdigen Umständen hat sich das freie Theaterkollektiv PortFolio Inc. in seiner Produktion „Eier! Wir brauchen Eier!“ angenommen, die bis vor Kurzem im Berliner Theater unterm Dach zu sehen war. Comeback erwünscht!
Wir schreiben den 1. November 2003. Gerade erst hat der FC Bayern München in der 1. Fußballbundesliga auf Schalke eine 2:0-Auswärtspleite einstecken müssen. Mit miesepetriger Miene steht der geschlagene Torhüter Kahn vor dem Reporter, der ihn fragt, was den Bayern denn an diesem Nachmittag gefehlt habe. „Eier! Wir brauchen Eier!“, skandiert Kahn daraufhin und weil der arme Reporter ein wenig verdutzt dreinblickt, setzt er hinterher: „Sie wissen was das heißt.“
Einen besseren Titel hätte das freie Theaterkollektiv PortFolio Inc. also wahrlich nicht wählen können für sein „dokumentarisches Spiel über das sonderbare Verhältnis von Fußball, Sexualität und Geschlecht.“ Dieser Untertitel verrät bereits, dass sich die Gruppe um Marc Lippuner und Michael F. Stoerzer, die bei „Eier! Wir brauchen Eier!“ gemeinsam Regie führen, dem Dokumentarischen verschrieben hat. Sie nutzt für ihre Projekte Briefe, Zeitungsartikel, wissenschaftliche Texte, Fotos, Videoschnipsel und alles Mögliche, was in irgendeiner Art eine Wahrheit erzählt.
Heroische Eigenschaften sind männlich
„Es geht bei unseren Theaterprojekten nicht darum Antworten zu präsentieren. Die kann der Zuschauer selber finden. Unser Ziel ist es, möglichst facetten- und kontrastreich Debatten und Diskurse nebeneinander zu stellen, um im Bestfall damit für Überraschungseffekte zu sorgen“, sagt Marc Lippuner über die gemeinsamen Ziele des Kollektivs. So gibt es auch bei diesem Projekt keine „richtigen“ Dialoge, sondern dokumentarische Fragmente werden spielerisch aufbereitet und so kompiliert, dass daraus Theater entsteht. Das mag sich trocken anhören, ist es aber nicht. Im Gegenteil. „Man muss die Leute zum Lachen bringen, damit es ihnen im Halse stecken bleiben kann“, erklärt Lippuner.
Eier! Wir brauchen Eier!“, sagt also der Mann, den sie „Titan“ nennen, im Fernsehen und vermutlich meint er, dass er von seinen „Jungs“ mehr Aggressivität, mehr Kampfgeist und Mut erwartet hätte – Eier eben. Pars pro toto steht das männliche Gemächt hier für heroische Eigenschaften. Von einer Frau sind diese freilich nicht zu erwarten. Die Welt des Fußballs, sie ist eine nicht nur sprachlich von Männern dominierte Bastion.
Ladies first
Nach einer kurzen Aufwärmrunde (man will sich schließlich nichts zerren) ist Anpfiff. Die Aufstellung: Judica Albrecht gegen Thomas Georgi. Frau gegen Mann. Kein Schiedsrichter. Das Saisonziel: den grotesken Irrsinn in der Welt des Fußballs aufzeigen.
Die erste Aktion des Abends gilt dem Frauenfußball und bereits nach wenigen Augenblicken tut sich schon das erste Konfliktfeld auf. Wie ist er denn eigentlich dieser andere Fußball? Fairer? Anmutiger? Gewiss doch. Aber auch langweiliger, passiver. Schubsen und grätschen ist den Kerlen vorbehalten. Von den Damen erwartet man, dass sie auf dem Feld eine ebenso grazile Figur abgeben wie auf dem Cover der Cosmopolitan. Für hyperathletische „Jungsmädchen“, die sich in Röcken verkleidet vorkommen und damit nicht den heteronormativen Ansprüchen genügen, ist kein Platz. Ebenso frustrierend ist die Lage für die weiblichen Ultras, die in den Rängen stets hinter den männlichen Kameraden zurückzubleiben haben. Salat machen und Flyer verteilen? Gerne. Die Fahne schwenken oder gar den kollektiven Fangesang übers Megafon vorgeben? Undenkbar.
Es gibt keine festen Rollen, keinen direkten Bezug zueinander. Zunächst mag man das als Manko wahrnehmen, doch Albrecht und Georgi harmonieren so gut miteinander und spielen sich so treffsicher die Bälle zu, dass man bald vergessen hat, dass ihre Dialoge eigentlich gar keine sind. Dabei liegt genau darin die besondere Stärke des Stücks. Die Sätze, die wir stellvertretend aus den Mündern der beiden Schauspieler hören, sind echte Sätze, von echten Menschen, die teils sogar medialen Ruhm erlangten. Dadurch wird das Stück zu einem Panoptikon des mehr als skurrilen Umgangs mit Geschlecht und Sexualität im Fußballzirkus.
Treffer versenkt
Judica Albrecht und Thomas Georgi (zeitweise mit angeschnallten Bällebrüsten und als lebensgroßer Fußball) laufen in der zweiten Halbzeit zu Höchstform auf. Auf der Tribüne hat man sichtlich Spaß. Doch als z.B. der impertinente und latent homophobe Fernsehmoderator den Ex(!)-Profi nach dessen Coming Out mit der brennenden Frage konfrontiert, wie spitz denn nun so ein Schwuler unter der Mannschaftsdusche eigentlich sei, mit all diesen potentiellen Sex-Partnern um ihn herum, zeigt das Fremdschämen erste Wirkung und der Hals wird merklich trockener. Vom Utrechter Modell ist dann die Rede und von Verrichtungsboxen am Straßenrand. Spätestens beim Thema „korrigierende Vergewaltigung“ ist definitiv Schluss mit lustig. Treffer versenkt, das Lachen steckt fest.
„Eier! Wir brauchen Eier!“ ist Theater auf den Punkt gebracht. Für mich persönlich war dieser Besuch im Theater unterm Dach wieder einmal der Beweis, wie stark, wie außergewöhnlich und wie spannend Berlins freie Theaterszene ist. Um den Zuschauer zu überraschen, zu unterhalten und zum Nachdenken zu bringen, braucht es nicht die ganz große Bühne, nicht die imposante Kulisse. Halina Kratochwil (Ausstattung) versteht es mit wenigen Mitteln kluge Akzente zu setzen.
Das Collagenhafte des Textes spiegelt sich in Kostüm und Bühne wider. Unterm Sakko kommt mit einer Handbewegung das Trikot zum Vorschein, passend zum WM-Jahr 2014 in brasilianischen Farben. Drei Boxen, die übrigens verdächtig an die ollen Lederturngeräte aus der Kindheit erinnern, sind variabel einsetzbar und dienen mal als vom Aktuellen Sportstudio beflimmertes Sofa, mal als Auswechselbank oder Mannschaftskabine.
Im November verabschiedet sich die Produktion „Eier! Wir brauchen Eier!“ nach 17 Spieltagen vorerst in die Winterpause. Hoffen wir auf ein Comeback!