Dirk Pilz ist Theaterkritiker und Mitbegründer des renommierten Online-Feuilletons nachtkritik.de. Der promovierte Literaturwissenschaftler schreibt zudem regelmäßig für die Berliner sowie die Neue Zürcher Zeitung. Ich sprach mit ihm über Kulturjournalismus im Internet und die Anfänge von nachtkritik.de. Teil I des Interviews.
Herr Pilz, ganz anders als bei einer Zeitung, erreichen Sie auf nachtkritik.de binnen Minuten die ersten Leserreaktionen. Welchen Einfluss hat das Onlinepublizieren auf Ihre Theaterkritiken?
Ist man unpräzise, wird einem das in der Regel vorgehalten. Also schreibt man auf nachtkritik.de stärker argumentierend, als in der Zeitung. Das ist gut, führt aber auch zu einem Verlust von Sinnlichkeit. Dennoch schreibe ich, was ich wirklich denke. Ich nehme ernst, was ich sehe, prüfe es, durchdenke es, so genau ich kann und dann schreibe ich. Aus Angst oder Rücksichtnahme etwas nicht zu schreiben, käme für mich nicht infrage.
Für welchen Leser schreiben Sie? Wie viel Theaterkenntnis können Sie dabei voraussetzen?
Das ist eine Frage, die man als Zeitungsredakteur genauso hat. Den Leser für doof zu halten ist immer ein Fehler, den man leichtfertigerweise machen könnte, ihn zu belehren, anstatt ihn zu faszinieren, anzustecken. Durch Denkkraft, durch Leidenschaft, durch Genauigkeit. Nichts ist so ansteckend und so energievoll wie die Liebe zur Sache. Wenn die weg ist und wenn es nur noch um Karriere oder Geld geht, oder um Politik…
Oder um Selbstdarstellung…
Dann ist es immer langweilig. Trotzdem: Es gab eine Zeit, in der man annehmen durfte, die Handlung von Kabale und Liebe sei bekannt. Da bin ich mir heute nicht mehr so sicher. Die muss ich also irgendwie miterzählen. Vielleicht auf nachtkritik.de weniger, als in einer Tageszeitung die sich nicht ausschließlich mit Theater beschäftigt. Genauso wenig möchte ich den Theatermachern im Lehrergestus Zeugnisse ausstellen. Das halte ich für eine radikale Vereinseitigung, die keiner Kritik gut tut.
Was war denn das für eine Zeit, als nachtkritik.de 2007 gegründet wurde?
Als wir das Portal gründeten, war die erste Überraschung, dass es so etwas nicht schon gab. Schließlich war das Internet da schon nicht mehr neu… Jedenfalls verschwand die Theaterberichterstattung großflächig aus den Feuilletons. Lange Zeit war die Theaterkritik dort die Königsdisziplin. Vor 20 Jahren, auch noch als ich bei der Berliner Zeitung anfing, war ganz klar: Ein Aufmacher im Feuilleton kann nicht Popkritik sein. Das neue Album von den Eels vorne? Auf gar keinen Fall. Da gehört Hochkultur hin. Diese Haltung, diese Hierarchie ist verschwunden. Das ist ein ganz normaler Prozess der Moderne. Damit verlor das Theater etwas, was es lange hatte, nämlich seine Vorrangstellung. Wie immer in solchen Prozessen wurde das zunächst sehr vereinseitigt und das Theater an den Rand gedrängt. Dagegen wollten wir ansetzen. Wir haben gesagt, wenn diese Ausdifferenzierung so läuft, dann muss man die Nische in die das gedrängt wird, in die es vielleicht auch gehört, bauen, ausbauen. Deshalb nachtkritik.
Wie waren die Reaktionen?
Damals gab es noch sehr viel stärker als heute einen Glaubenskrieg zwischen Print- und Onlinejournalismus. Von der Süddeutschen Zeitung etwa wurde uns vorgeworfen, nachtkritik.de sei ein Projekt von Autoren, die es nicht zum Print geschafft hätten. Und das obwohl wir doch gerade aus dem Printbereich kamen. Viele dachten, Qualität könne nur auf Papier stattfinden. Das ist aber eine Stellvertreterdebatte. Jeder weiß, dass auf Papier auch viel Unsinn gedruckt wird. Nachtkritik.de brachte die Machtgefüge durcheinander und darum ging es vor allem.
Manch einer behauptet gern, das Internet sei Schuld an der Zeitungskrise.
Nun, wir haben es mit einem Medienwandel zu tun, ganz ähnlich dem zu Zeiten Luthers. Damals gab es dieselben Positionen, wie heute: Radikale, die fürchteten, mit der Erfindung der Bücher sei die Kultur, sei das Wissen bedroht. Verschwunden ist es nicht, aber es hat sich transformiert. Damals wie heute müssen wir neu lernen, wie wir Wissen generieren, wie wir Konzentration herstellen. Was viel eher zum Niedergang der Printzeitungen beigetragen hat, sind die veralteten Strukturen, das verfestigte Denken. Vor nicht allzu langer Zeit ließ sich ein Kritiker zu Hause abholen und ins Theater fahren. Der Platz neben ihm blieb selbstverständlich frei. Geklatscht oder gelacht wurde nicht. Dieses Denken hat sich gewandelt. Aber das Denken wandelt sich schneller, als die Menschen. Die sitzen großflächig noch auf diesen Positionen. Der Leser jedoch, oder der User, wie man im Netz sagt, hat keine Lust mehr auf diese Richtersprüche. Er ist nicht blöder als der Kritiker, er hat bloß eine andere Funktion.
Und etwas zu sagen.
Völlig richtig. Es gibt exemplarische Fälle, wie die Debatten zu Stemann und Brecht oder zu Schlingensief, wo in den Kommentaren auf nachtkritik.de wirklich was passiert ist inhaltlich. Die Krise am Burgtheater, die wäre nicht so prominent und groß geworden, wenn es nicht so viele Leser gegeben hätte, die uns Recherchehinweise, Fakten und Belege geliefert hätten. Wir bündeln diese dann und dadurch bekommen sie eine Macht. Trotzdem veröffentlichen wir viele Kommentare gar nicht erst. Nahezu täglich diskutieren wir über bestimmte, einzelne Kommentare. Furchtbar enervierend, aber es muss sein.
Ist die Großkritik zur Branchenschau verkommen, die den Zuschauer außer Acht lässt?
Was ist ein Großkritiker? Ein Großkritiker ist einer, der herumreist und sich vielleicht zwei Monate überall Ibsen ansieht. Der schreibt dann eine Zusammenschau „Ibsen heute“. Das wird immer gern gelesen. Das passiert aber immer weniger, weil die Reisekosten kaum noch bezahlt werden. Was die Leute aber nicht erreicht, ist ein betriebsinterner Diskurs. Ein gedankenreicher Text findet immer seine Leser. Das Problem der Großkritik ist nach wie vor, dass sie glaubt, den Leser belehren zu müssen. Aber zu glauben, nur weil man viel gesehen hat, hat man auch viel verstanden – das ist ein Irrtum.