Die Vorführung kann nicht beginnen…

Im Februar 2013 zündete der 36-jährige Plamen Goranov sich öffentlich selbst an. Es gab in dieser Zeit ca. 13 weitere Fälle jener erschütternden Form politischen Protests in Bulgarien. Doch über Plamens genaue Beweggründe ist nichts bekannt. Er hinterließ keinen Brief. Zumindest wurde nie einer gefunden.

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Vor diesem Hintergrund konzipierte der in Sofia geborene Alexander Manuiloff seine Textgestaltung „The State“ bzw. „Der Staat“, die gestern als zweite von insgesamt fünf Arbeiten auf dem Stückemarkt des Berliner Theatertreffens in einer englischen und einer deutschen Variante zur Aufführung kam. Warum nicht von einem Stück im herkömmlichen Sinne die Rede sein kann, ist schnell erklärt: Es handelt sich bei „Der Staat“ um ein Skript bestehend aus 63 Statements, das ohne Regie und Schauspieler auskommt. Es sind die Zuschauer*innen selbst, die als Akteur*innen in Erscheinung treten und so aus dem Skript ein unverwechselbares Theatererlebnis erschaffen.

An diesem Abend befindet sich auf der Seitenbühne des Hauses der Berliner Festspiele ein unscheinbarer, schwarzer Holztisch. Darauf ruht ein Stapel weißer Briefumschläge. Neben dem Tisch steht ein ebenso schwarzer Papierkorb bereit. Ein Mikrofon hängt von der Decke (Ausstattung: Eva Veronica Born). Im rund angeordneten Zuschauerrang steht mehr oder weniger sichtbar eine Kamera. Noch während die Plätze sich füllen, zeichnet sie auf. Das Licht erlischt und nur noch der Tisch ist in helles Scheinwerferlicht getaucht.

Die Vorführung wird in fünf Minuten beginnen

Gespannte Stille breitet sich aus. Müssen wir etwa? Eine Frau schießt ein Foto mit ihrem Smartphone. Das künstliche Verschlussgeräusch, das die Stille durchschneidet, bringt das Publikum zum Lachen. Dann endlich tritt jemand hervor. Gehört dieser Mann zum Konzept? Er greift den ersten Briefumschlag und liest: „Die Vorführung wird in fünf Minuten beginnen.“ Er wirft Brief und Umschlag in den Papierkorb. Setzt sich. Die Frau, die zuvor das Foto geschossen hat, sagt: „Ordnung muss sein in Deutschland. In Deutschland sortiert man gerne. Vor allem aus.“ Das klingt so vorbereitet, dass man glauben mag, es gehöre zur Inszenierung. Aber tut es das auch? In immer kürzeren Abständen trauen sich die Zuschauer*innen in die Mitte zu treten und im Scheinwerferlicht vorzulesen. „Ich bin Plamen“, sagt einer. „Morgen verbrenne ich mich.“

Soll ich auch? Darf ich auch? Oder gibt es einen Plan, den ich durchkreuzen würde, wenn ich aufstünde? Die Unsicherheit wird dadurch verstärkt, dass auch Schauspieler*innen im Publikum sitzen. Almut Zilcher z.B. oder Judith Rosmair erheben sich von ihren Plätzen und bringen damit eine zusätzliche, spannende Metaebene ins Spiel.

Unter die Botschaften von Plamen mischen sich andere Stimmen, konkrete Verweise auf den artifiziellen Charakter der Situation und auf die Themen dieses Abends: Macht, Demokratie, Autorität. „Die Vorführung kann nicht beginnen, weil es keine Schauspieler gibt“, heißt es etwa, oder „weil das Publikum nicht entschieden hat, wann es zu beginnen hat.“ Einmal wird sogar real abgestimmt, ob das „Stück“ weitergeführt oder abgebrochen werden soll.

Ein performativer Wettstreit beginnt

Aufregend ist es, zu beobachten, wie die Gruppendynamik im Saal sich entwickelt, wie die Zuschauer-Akteure sich gegenseitig beeinflussen. Immer deutlicher werden sie sich ihrer Performance bewusst und ein kleiner Wettstreit beginnt. Einer legt, bezugnehmend auf den erwähnten Kommentar zur Ordnung in Deutschland, seinen Brief geöffnet zurück, anstatt ihn im Eimer zu entsorgen. Eine andere nimmt statt des nächsten den übernächsten Brief oder liest gleich zwei auf einmal vor. Jemand baut ein Papierschiffchen und stellt es auf den Tisch. Ein anderer stellt den Papierkorb von der einen auf die andere Seite des Tisches. Die Dame, die zu Beginn das Foto geschossen hatte, kommentiert in enervierender Regelmäßigkeit das Geschehen. Bald sagt eine Person halblaut: „Halt doch die Schnauze.“ Eine andere bittet die Störende unmissverständlich darum, den Raum zu verlassen und ihre „Profilneurose woanders auszuleben.“

Was dort geschieht, ist, mit Verlaub, irre. Ungeheuer spannend. Das Publikum ist Teil eines einmaligen, schöpferischen Moments. Nicht nur passiert gerade ein Theaterabend, der in dieser Form nie wieder existieren kann, da er in dem Augenblick erlischt, in dem er entsteht. Das Konglomerat der Zuschauer bildet zudem eine Gesellschaft, einen Mikro-Staat auf Zeit. Ihm wird die Demokratie in die Hände gelegt. Es wird zu seiner eigenen Autorität, in der ein jeder Macht ausüben oder darauf verzichten kann. Indem der Abend – von der eindeutigen Bühnensituation abgesehen, die durch die zentrale Position des Tisches und den Scheinwerfer entsteht – gegen alle etablierten Regeln des Theaters verstößt, wird das Publikum ermächtigt, eigene zu schaffen.

Sogar ein Feuer gibt es

Nebenan in der englischen Variante, so erfährt man im Anschlussgespräch, verweigerte eine Zuschauerin die Performance, indem sie ihren Brief an sich nahm, ohne ihn zu lesen. Und das, obwohl sie von ihren Co-Akteur*innen dazu aufgefordert wurde. Hat sie in diesem Moment egoistisch gehandelt? Ihre Macht missbraucht? Sogar ein Feuer gab es im Nebenraum, da eine „Protagonistin“ sich entschied, das Papier anzuzünden.

„Für mich wäre es das Gegenteil von Demokratie gewesen“, sagt Alexander Manuiloff später im Plenum, „200 Menschen in eine schwarze Box zu sperren und sie zu bitten, nichts zu tun.“ Diese konventionelle Form des Theaters sei für ihn angesichts des zentralen Themas undenkbar gewesen. Freilich, ganz frei von Autorität ist dieser Theaterabend nicht. Sie manifestiert sich schließlich in der Person des Autors selbst. Aber dennoch, so Manuiloff, sei es eine Autorität, mit der das Publikum machen könne, was es wolle.

Theaterrevolution im Kleinen

Die einzige Schwäche dieses Abends – sofern man unbedingt eine benennen möchte – ist, dass hier eindeutig der Inhalt hinter der Form zurückbleibt. Manuiloff liefert den Zuschauer*innen die Innenansichten, die der reale Plamen ihnen schuldig blieb. Doch zu groß ist die Aufregung durch die Ungewissheit des regellosen Live-Moments. Und manch eine starke Formulierung geht dadurch verloren, dass ein Laie sie vorträgt, statt eines ausgebildeten Schauspielers. Eindeutig überwiegt jedoch das befriedigende Gefühl, Teil einer Theaterrevolution im Kleinen gewesen zu sein.

„Der Staat“ war bereits in Bulgarien zu sehen und soll in weiteren Ländern zur Aufführung kommen. Durch die Aufzeichnung der Performances schafft Alexander Manuiloff gleichsam eine internationale Dokumentation, deren Auswertung sowohl unter theater- als auch sozialwissenschaftlichen Gesichtspunkten höchst aufschlussreich zu werden verspricht.

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