Dienstleistungshure Theaterkritik?

Dirk Pilz ist Theaterkritiker und Mitbegründer des renommierten Online-Feuilletons nachtkritik.de. Der promovierte Literaturwissenschaftler schreibt zudem regelmäßig für die Berliner sowie die Neue Zürcher Zeitung. In Teil II unseres Interviews sprechen wir über die Rolle des Kritikers, die Legitimationsfrage und den Umgang der Theater mit der Digitalisierung. 

Mein persönlicher Eindruck ist, dass manchem Großkritiker der literarische Charakter seiner Texte wichtiger ist, als der Wille, dem Leser verständlich zu machen, ob eine Inszenierung sehenswert ist, oder nicht.

Das ist ein ganz alter Streit. Alfred Kerr hat immer behauptet, die Theaterkritik sei Kunst. Das glaube ich nicht. Schon damals gab es Gegenspieler, die stärker auf Information, Vermittlung und Bewertung gesetzt haben. Das entscheidet jeder Autor für sich selbst. Mir sind jedoch das Beschreiben und die Sprache und das Denken wichtiger, als zu schreiben „Das ist ein guter Abend, nehmen Sie 13,50 Euro in die Hand und gehen Sie dorthin.“ Das muss sich aus dem Text selbst ergeben.

Dann ist Theaterkritik also keine Dienstleistung?

Dirk Pilz ist u.a. Redakteur bei nachtkritik.de (Foto: MuTphoto/ Barbara Braun)

Dirk Pilz ist u.a. Redakteur bei nachtkritik.de (Foto: MuTphoto/ Barbara Braun)

Doch, diese Funktion hat Kritik immer. Man kann das stärker betonen oder weniger. Das hat’s schon immer gegeben. Neu ist, dass die Hierarchien weggebrochen sind. Man schlägt die Zitty auf und irgendwie ist alles gut. Das war als es noch ein intaktes Bürgertum gab anders. Heute muss man sich entscheiden: Gehe ich zu den Stones oder zu Gorki ins DT? Das erhöht den Druck auf die Kritik, Empfehlungen auszusprechen. Deshalb tritt die Dienstleistungsfunktion stärker in den Vordergrund. Gibt man dem nach, dann macht man sich zur Dienstleistungshure. Ich glaube, dass man gerade deswegen auf die Qualitäten des Denkens und Schreibens setzen muss.

Braucht es dazu die Profession oder kann auch der Laie ein guter Kritiker sein?

Nun, was ist ein überhaupt ein Laie? Ich bin doch auch nicht ausgebildet. Keiner von denen, die als Kritiker herumlaufen, ist ausgebildet.

Naja…

Die Ausbildung besteht darin, viel zu lesen, genau zu denken. Sich immer wieder zu überprüfen. Aber Kritiker sind nicht ausgebildet wie Schlosser oder wie Ärzte. Das ist Unsinn. Selbst die Leute, die durch Schreib- oder Journalistenschulen gehen, sind nur bedingt ausgebildet. Es gibt gute Texte von Sascha Krieger und es gibt schlechte. Es gibt gute Texte von Stadelmaier und schlechte. Und genauso auch bei mir. Der einzelne Text entscheidet. Immer wieder von vorn.

Wie viel Sinn macht es in Zeiten der Digitalisierung da noch, zwischen Experte und Laie zu unterscheiden? Wird der sich artikulierende Zuschauer und Leser gar wichtiger, als der Kritiker?

Der Experte ist jemand, der Spezialwissen angehäuft hat, weil er eine Sache schon lange macht. Der kann sagen, der Dostojewski-Abend von Castorf ist anders als der von Stein. Das hat aber noch keine argumentative Kraft. Man muss daraus etwas schließen, erst dann wird es interessant. Deswegen gibt es viele gute, junge Autoren, die viel weniger gesehen haben, aber die Fähigkeit haben, Schlüsse zu ziehen. Bei nachtkritik.de verstehen wir es so: Da geht einer der schreiben kann vorbereitet ins Theater und macht ein Diskussionsangebot, für die Eröffnung eines Gesprächs. Das ist die Idealvorstellung.

Und dann ist es aber schön und erwünscht, wenn geantwortet wird.

Theaterkritik als Einbahnstraße? Das war gestern. Heute ist die Antwort erwünscht. (Foto: pixabay.com)

Theaterkritik als Einbahnstraße? Das war gestern. Heute ist die Antwort erwünscht. (Foto: pixabay.com)

Genau. Und wenn die Gesprächseröffnung ein gewisses Niveau hat, eine gewisse Qualität, dann kann man ja auch entsprechend darauf reagieren. Deswegen legen wir großen Wert darauf, sehr genaue, sehr gute Texte zu schreiben, weil die ein gewisses Differenzierungsniveau festlegen. Aber deshalb wird der Leser nicht wichtiger, als die Kritik, sondern er wird nur ernst genommen.

Aber der Beruf des Journalisten verändert sich zwangsläufig. Ist ein guter Kritiker heute eher ein Kurator und Moderator und weniger ein Autor?

Journalismus hat nur dann eine Berechtigung, wenn er selbst etwas zu sagen hat und nicht wenn er zum Mülltrennungsunternehmen verkommt. Dann braucht ihn kein Mensch.

Haben die Theater bereits auf die Digitalisierung reagiert, den Wandel erkannt?

Da muss man sehr genau hinschauen, von Theater zu Theater. Ja, sie haben ihn erkannt. Ja, sie sind manchmal verschnarcht. Aber sie sind keine Mormonen. Sie freunden sich langsam mit bestimmten Ideen an, wie Twittern aus dem Theater heraus usw. Ob es zu spät kommt, weiß ich nicht. Aber es wird gemacht. Beim Theatertreffen. Am Residenztheater. Es gibt manche Häuser, die sind weit vorne weg, wie das Thalia Theater, und es gibt andere, die halten das nicht für relevant. So ist das halt.

Bloß haben wir es hier nicht mit einer Mode zu tun, sondern mit dem Wunsch nach Teilhabe. Ist es nicht riskant, diesen zu ignorieren?

Von sämtlichen Kulturausgaben, die in der Bundesrepublik gemacht werden, das sind 9,2 Milliarden, gehen über 35% in die Theater und Opern. Die zweite Position besetzen die Bibliotheken, das sind 18%. Bedenkt man, dass stehende Häuser mit Ensembles teurer sind als eine Bibliothek, bleibt trotzdem noch ein großes Gefälle. Und das war Jahrzehnte lang kein Thema. Jetzt aber fängt man an zu fragen, warum soll das Berghain keine Subventionen bekommen? Warum sollen nicht genau so wie junge Autoren gefördert werden, junge Popkünstler gefördert werden? Warum nochmal genau? Und darauf muss das Theater Antworten haben. Hat es, aber die werden nicht formuliert. Und das wird dazu führen, dass man den Theatern das Geld wieder wegnimmt.

Es könnte so einfach sein, gerade für die Kommunikationsabteilungen, dieser Legitimationsfrage etwas entgegen zu setzen…

Es ist nicht einfach.

Gut, theoretisch ist es einfach. Die technischen Möglichkeiten sind da. Jeder von uns kann Filme drehen, Beiträge schneiden, Artikel schreiben.

Bleiben die Ränge leer, ist es besonders schwierig, Subventionen zu legitimieren (Foto: Laura Lucas)

Bleiben die Ränge leer, ist es besonders schwierig, Subventionen zu legitimieren (Foto: Laura Lucas)

Das löst nicht das Problem. Allein die Legitimationsfrage zu stellen führt zu unglaublicher Aufregung bei den Theatermachern. Dahinter steckt eine große Angst. Eine berechtigte Angst. Und darauf muss man schnell reagieren. Man muss der Gesellschaft und sich selbst erklären, warum diese Häuser so viel mehr Geld bekommen als z.B. Bibliotheken oder Museumsverbände. Warum?

Umso verwunderlicher, dass die Häuser nicht selbst viel stärker das Gespräch suchen. Über ihre eigenen Kanäle.

Weil sie Angst haben. Aber da muss man ran, das ist ganz zentral. Da könnte man das Internet in der Tat nutzen. Nur würde man da Antworten kriegen, die man nicht haben will.

Ja?

Da würden sehr viele Leute schreiben „Weg damit. Ist doch eh Geldverschwendung.“

Vermutlich. Aber die Fans von Theater könnte man sich viel besser zu Nutze machen, z.B. indem man die Kommunikationskanäle stärker öffnet, Raum schafft für Bürgerjournalismus, Blogger usw. Und doch scheint es nach wie vor wichtiger zu sein, die Journalisten zufrieden zu stellen. Erst am Schluss wird an die Zuschauer gedacht, die jedoch längst eine eigene Stimme haben. Da sehe ich noch eine Menge Potenzial.

Das stimmt. Diese Diskussion wird es demnächst geben. Ich bin schon gespannt, wie wir alle darauf reagieren werden. Ist es richtig, dass die Presse Freikarten bekommt? In Amerika ist es nicht so. Aber wenn die Pressekarten abgeschafft werden, ist das eine echte Gefahr für die Theaterkritik. Das kann sich kaum noch jemand leisten. Es ist nicht verwunderlich, dass da zuerst und vor allem an die Presse gedacht wird. Die Häuser brauchen Aufmerksamkeit und die Konkurrenz ist groß.

Ein Blogger hat es immer noch schwer, die Zugänge zu bekommen, die er bräuchte, um genau so gut zu publizieren, wie ein Journalist.

Sascha Krieger sitzt in jeder Premiere.

Fallen Ihnen da noch mehr ein, außer Sascha Krieger?

Ja doch, es gibt da schon ein paar. Das sind letztendlich simple Medienprozesse. Das hat mich schon immer amüsiert: Wenn ich mich für die NZZ für eine Premiere anmelde, dann sitze ich in Reihe drei, Mitte. Bester Platz. Melde ich mich für die Märkische Allgemeine an, sitze ich in Reihe 17. Ich schreibe aber keinen anderen Text. Schließlich sage ich nicht „Ach, das ist nur die Märkische Allgemeine, da muss ich mir keine Mühe geben.“ Aber das sind Hierarchien, die gibt es in einer Medienöffentlichkeit immer. Man unterstellt der NZZ mehr Macht, mehr Verbreitung, mehr Durchschlagskraft. Und tatsächlich: Mit einem Text in der FAZ oder auf nachtkritik.de kann man mehr kulturpolitischen Druck machen. Das ist entscheidend, lebensnotwendig für die Häuser. Denn die Politiker gehen nicht ins Theater. Und wenn die ein Jahr lang nur Verrisse lesen, wird es schwer im Kulturausschuss durchzusetzen, dass die Tariferhöhung für die Theater bezahlt werden muss. Deshalb legen die Häuser so großen Wert darauf. Und das ist wichtiger als ein Blogger, der 1000 Leser hat.

Es gibt bereits Studien, die besagen, dass das Empfehlungsmarketing im Vergleich zu redaktionellen Inhalten wichtiger wird.

Absolut. Ich habe zu erklären versucht, wie der Betrieb funktioniert. Es wird bestimmt dahin kommen, dass die Theater sagen, es müssen in jeder Premiere 20 Blogger und Twitterer sitzen. Und das ist auch richtig so. Das dauert aber. Vor allem dauert es, bis sich die neuen Formen und Medien kulturpolitisch durchgesetzt haben. Wenn das eingetreten ist, wird man sagen: Dieser oder jener hat aus der Vorstellung getwittert und der hat 150.000 Follower. Das ist mehr als deine Lokalzeitung Leser hat. Ganz gewiss. Das ist zu begrüßen.

Zu Teil I des Interviews mit Dirk Pilz

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