Auflehnen gegen das Sein

Je weniger man braucht, je weniger man sich wünscht, desto weniger wird man enttäuscht oder verletzt. Aber wer nichts und niemanden braucht — kann der nicht genauso gut aufhören zu existieren?

Dies ist für mich die zentrale Frage, die in der Inszenierung „Väter und Söhne“ am Deutschen Theater Berlin verhandelt wird. Ihr zugrunde liegt der gleichnamige Roman von Iwan Turgenjew aus dem Jahr 1862. Der Ire Brian Friel hatte ihn bereits 1997 für die Bühne bearbeitet. Nun haben sich Daniela Löffner und David Heiligers des Werkes erneut angenommen. Episch wie der Stoff ist daher auch die Aufführungsdauer. Vier Stunden gibt Regisseurin Daniela Löffner der Geschichte Zeit, sich zu entfalten. Das ist mitunter mühsam. Doch die Reise, auf die sich der Zuschauer mit diesem Abend begibt, ist die Mühe wert. Als eine der zehn bemerkenswertesten Inszenierungen des vergangenen Jahres ist „Väter und Söhne“ zum Theatertreffen 2016 eingeladen.

Im Studium in Sankt Petersburg sind Arkadij Kirsanow und Jewgenij Bazarow enge Freunde geworden. Sie sind Aktivisten — Nihilisten, um es genau zu sagen — und geraten bei einem Besuch in der ländlichen Heimat im Süden Russlands in einen Konflikt mit der Generation ihrer Väter. Sie lehnen alles ab, was keinen Zweck erfüllt. Begehren auf gegen tradierte Werte und Autoritäten. Brauchen nicht die Natur und schon gar nicht die Kunst. Arkadij ist der Moderate, der Sympathische der beiden Revolutionäre. Bazarow hingegen ist der Hardliner. Ihn umweht ein dunkler Hauch. Zwar zeichnet sich der Paradigmenwechsel gleich zu Beginn der Handlung ab. So hat etwa der Gutsherr, Arkadijs Vater Nikolaj, kürzlich das Hausmädchen Fenitschka gebeten, mit dem gemeinsamen Kind zu ihm ins Haupthaus zu ziehen. Doch erst die Ankunft Bazarows bringt die Ordnung so richtig auseinander. Besonders mit Arkadijs Onkel Pawel, einem Kulturenthusiasten, der sein Leben einer romantischen Liebe opferte, gerät er aneinander. Aber von dem Bedürfnis gesehen und gehört zu werden, kann selbst der überzeugte Nihilist sich nicht befreien. Kaum dass auch Bazarow sich endlich öffnet, wird eine tiefe Kränkung ihm zum Verhängnis.

Was von diesem Abend besonders in Erinnerung bleibt, ist die Spielfreude des durch die Bank weg exzellenten Ensembles, aus dem besonders Helmut Mooshammer als Vater Kirsanow hervorsticht. Bürgerliches Theater? Wenn damit gemeint ist, dass Text und Schauspiel sowie eine dezente Regie den Abend tragen, so trifft der Begriff zu. Auf der Suche nach dem Glück sind die Figuren dem Publikum ganz nah. Zum einen, weil die Zuschauer auf der Hinterbühne der Kammerspiele auf vier Seiten um ein Karre aus Holzdielen arrangiert sind, das Assoziationen an eine alte Gutshausveranda weckt (Bühne: Regina Lorenz-Schweer). In den vorderen Reihen bleiben immer wieder Sitze leer, auf denen dann die Handelnden Platz nehmen, um ihre Geschichte aus unserer Perspektive zu betrachten. Zum anderen, weil diese Figuren gleichzeitig aus einer anderen Zeit und heutig sind und auch von uns erzählen. „Was ist der Zweck von Kunst?“ fragt Bazarow Anna Odinzowa, der er mehr und mehr verfällt. Wenn die Kunst auch nur einen Zweck habe, antwortet diese, dann sei es der, dass die Menschen einander erkennen. Und man erkennt sich und andere in den Figuren. Findet eigene und fremde Konflikte wieder. Findet im Schauspiel Ausdruck eigener Gefühle. Was mehr könnte ein Theaterabend leisten?

Beitragsbild: unsplash.com

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