Eine Frage des Blickwinkels

„Die Borderline Prozession“ vom Schauspiel Dortmund ist ein betörender Mash-up aus Bild, Text, Ton und Spiel, der permanent den Blick des Zuschauers unterwandert und einlädt, das Konzept von Wirklichkeit zu überdenken. Als eine der zehn bemerkenswertesten Inszenierungen der vergangenen Spielzeit ist das Stück von Kay Voges, Alexander Kerlin und Dirk Baumann zum Berliner Theatertreffen 2017 eingeladen.

An diesem Abend ist alles anders. Am Bahnsteig in Neukölln steige ich nicht in die Ringbahn. Ich fahre nicht nach Mitte. Ich gehe nicht ins Gorki, nicht ins DT und in keines der anderen großen Häuser. Ich fahre nach Oberschöneweide, ein ehemaliges Fabrikquartier im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick. Als ich durch die Edison- und Wilhelminenhofstraße laufe, weiß ich noch nicht, wie gut dieser Ort zu dem Stück passt, das ich in weniger als einer Stunde sehen werde. Die Fassaden wirken gleichermaßen gegenwärtig und aus der Zeit gefallen – fast so, als würden Vergangenheit und Zukunft hier in friedlicher Nachbarschaft leben. Wo vor der Wende geschuftet wurde, wird heute studiert. Dazwischen: Alltag.

Ich betrete kein Theaterfoyer. Stattdessen öffne ich die Tür zu einer ehemaligen Montagehalle. An der Garderobe rät man mir, den Mantel lieber anzubehalten. Auch das Programmheft gibt ungewöhnliche Hilfestellung: „Sie können sich frei im Zuschauerraum bewegen und ihre Perspektive selbst wählen. Bitte ändern Sie Ihre Position, wenn Ihnen danach ist“, heißt es darin. Und: „Es gibt nichts zu verstehen, aber viel zu erleben. Wie auch sonst im Dasein.“

Das Chaos, das wir Leben nennen

Es gibt keine Bühne, aber zwei Zuschauerränge, die sich gegenüber liegen. Dazwischen befindet sich die Borderline-Welt, angeordnet als abgerundetes Rechteck, dessen Längsachse als Grenze aus Beton und Stacheldraht das Innen vom Außen trennt. Auf der einen Seite: ein bewohntes Haus mit mehreren Zimmern, gut bürgerlich, ein bisschen retro – und im Fernsehen läuft BVB. Auf der anderen Seite: eine Straßenszene, weit weniger gediegen. Es gibt eine Bushaltestelle im Rotlichtmilieu, ein verlassenes Auto, eine Trinkhalle. Um dieses Setting kreist eine Prozession aus 23 Schauspielern. Sie folgt keinem Heiligtum, sie folgt einer Kamera. In den Händen halten die Schreitenden keine Kerzen, sondern LED-Lampen, die ihre Gesichter in dasselbe bläuliche Licht tauchen, wie Smartphone-Displays es tun würden. Ihr Mantra ist Tuxedomoons „In a Manner of Speaking“, das sie in Dauerschleife singen. Schließlich löst sich die Prozession Stück für Stück auf. Die Schreitenden werden die Bewohner der Borderline-Welt.

In a manner of speaking
I just want to say
That I could never forget the way
You told me everything
By saying nothing

„Die Borderline Prozession“ ist eine betörende, zuweilen überfordernde Bild-Text-Ton-Spiel-Collage, die sich jeden Abend neu erfindet. Das Team um Regisseur Kay Voges und die Dramaturgen Dirk Baumann und Alexander Kerlin tritt an mit dem Versuch, eine knapp dreistündige Essenz zu destillieren aus dem Chaos, das wir menschliches Leben nennen. Es gilt, die „Gleichzeitigkeit des Ungleichen“ abzubilden, wobei „Bild“ beileibe nicht der richtige Ausdruck ist. Vielmehr ist die Inszenierung eine permanente Unterwanderung des Blicks. Die Zuschauer dürfen sich immerzu aufs Neue entscheiden, worauf sie ihre Aufmerksamkeit lenken, welche Fragmente sie zu einem Narrativ zusammenführen möchten.

Eine „nie abreißende Serie von kleinen Tragödien“

Auf drei großen Monitoren auf jeder der beiden Seiten wird die Kreisfahrt der Kamera übertragen. Zunächst fängt sie in Echtzeit wie ein unbemerkter Beobachter die „nie abreißende Serie von kleinen Tragödien“ ein, die sich in den Räumen und auf der Straße abspielen. Später wird es Szenen geben, die extra für die Kamera inszeniert sind, werden sich die Bilder überlagern und die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit verwischen.

„Die Borderline Prozession“ ist ein Abend der Widersprüche: Innen und Außen, Komplexität und Banalität, Improvisation und Organisation. Gerade der erste Teil, der zumindest heute den Titel „Es ist, wie es ist“ trägt, ist von einer eigentümlichen, anrührenden Schönheit, die immer wieder von unvermittelt verstörenden, hässlichen Szenen zerschnitten wird. Sie kündigen die „Crisis“, den zweiten, deutlich gruseligeren und surrealeren Teil des Abends an, der mit seinen Bezügen zu heutigen Ereignissen und zur Politik der Gegenwart dann doch erschreckend authentisch anmutet. Alltag und Krise gehen letztlich auf in „Einsturz – Traum – Aufhebung“, dem dritten Teil. Dieser ist ein selbstironisches, popkulturelles Referenz-Stakkato, bei dem es auch ohne zu verstehen, viel zu erleben gibt.

Immer wieder gibt es bewusst herbeigeführte Momente der Überreizung: zu viel, zu schnell, zu laut, zu gleichzeitig. Als Zuschauer ist man unfähig, je das Setting als Ganzes zu erfassen. Insofern kann man den Abend verstehen als eine Parabel auf den Gleichzeitigkeitsterror einer digitalisierten Welt. Er ist aber auch eine Einladung, das Konzept von Wahrheit zu überdenken. Denn der ständige Perspektivwechsel, das Spiel mit Fragmenten, Frames und Assoziationen zeigt: Ein Bild hat man nicht, ein Bild macht man sich. Und: Wirklichkeit ist eine Frage des Blickwinkels.

 

Beitragsbild: © Marcel Schaar/Schauspiel Dortmund

 

 

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