Philotes: Theater liebt Netz?

Theater und Netz – Lovestory oder Gruselgeschichte? Darüber wird dieser Tage viel und gerne debattiert. Die medialen Streitgespräche über Streams und Tweets aus dem Theatersaal sind dafür prominente Beispiele. Ein vielversprechender Flirt scheint die aktuelle Produktion „Philotes“ der mobilen Kompagnie theaterspiel zu sein. Darin wird das Thema Computerspielsucht theatral bearbeitet und zurück in den digitalen Raum getragen. Julian Pfahl hat im Rahmen des „NRW Nachwuchsstipendiums Freie Kinder- und Jugendtheater“ die Website philotes-spiel.de konzipiert und umgesetzt.

„Philotes“ – Laut Wikipedia ist das die griechische Göttin der Freundschaft…

… und der Name des Online-Rollenspiels, nach dem das Stück benannt ist. Die Freunde Tom und Benny sind ganz begeistert von der riesigen Fantasy-Welt, die das Spiel ihnen eröffnet. Während es für Tom jedoch auch eine Welt außerhalb des Computers gibt, fühlt sich Benny so wohl im Reich von Philotes, dass er fürs Zocken bald nicht nur das Tischtennistraining sondern auch die Schule schwänzt. Als seine Mutter für zwei Wochen verreist, verlässt er kaum mehr das Haus und selbst seine Freunde verlieren den Zugang zu ihm.

Julian Pfahl studiert Theater- und Medienwissenschaft in Bochum und konzipierte eine begleitende Website zum Theaterstück Philotes (Foto: privat)

Julian Pfahl studiert Theater- und Medienwissenschaft in Bochum und konzipierte eine begleitende Website zum Theaterstück Philotes (Foto: privat)

Computerspiele und Bühne – wie passt das zusammen?

Die Produktionen von theaterspiel schauen auf aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen, insbesondere aus der Lebenswelt junger Menschen. In der Vergangenheit gehörten dazu Gleichberechtigung, Migration oder Suchtprävention. In letzter Zeit äußerten z.B. Eltern immer häufiger Bedenken, dass ihre Kinder zu viel vor dem Computer oder dem Smartphone hockten. Digitale Medien haben ihren festen Platz im Alltag der meisten Jugendlichen. Mit ihnen betreten sie Welten, in die ihnen Schulen und Eltern kaum mehr folgen können. Wie viel Zocken ist okay? Wie viel aufs Handy Starren ist in Ordnung? Die Suche nach Antworten lässt viele ratlos zurück oder sorgt für Konflikte. Damit wird das Ganze auch zum Thema für die Bühne.

Wie lässt sich das konkret umsetzen?

Das Stück zeigt unter anderem, wie Bennys reale Lebenswelt mit der des Spiels verschmilzt, bis sich sein Bewusstsein fast ausschließlich mit dem Spiel beschäftigt. Anfangs liegt die Künstlichkeit des Spiels für Benny und das Publikum noch offen. Soundeffekte kommen sichtbar über ein Mischpult auf der Bühne, die Stimme von Bennys Avatar durch ein verzerrtes Mikro. Als sich Bennys Bewusstsein im Verlauf aber immer stärker auf das Spiel fokussiert, kippt diese Grenze zwischen realem und virtuellem Raum – und Bennys Avatar wirkt plötzlich ganz echt. Beate Albrecht, die Autorin des Stücks, hat in der Vorbereitung mit verschiedenen Menschen gesprochen, die sich an einem Punkt in ihrem Leben als computerspielabhängig beschreiben würden. Fast alle erzählten, wie das Spiel und die dort wartenden Aufgaben in ihrem Kopf schwirrten, egal wo sie sich gerade aufhielten oder womit sie sich beschäftigten.

Welche Lösungsansätze zeigt das Stück auf?

Der Begriff Lösung suggeriert, dass es sich bei Bennys Verhalten um ein Problem handelt. Aber das ist gar nicht so sicher. „Ist Benny computerspielsüchtig?“ wird in fast jedem Nachgespräch gefragt. Darauf kann man nicht ohne Weiteres mit ja antworten. Das Stück deckt einige Wochen in Bennys Leben ab. In dieser Zeit ist gerade ein neues Spiel herausgekommen, auf das er monatelang gewartet hat. Ist es deswegen richtig, blau zu machen, seinen besten Freund zu vernachlässigen und sich Zuhause einzuigeln? Eher nicht. Aber ist es deswegen gleich ein Suchtverhalten, das klinisch behandelt werden müsste? Vielleicht findet Benny das Spiel in drei Wochen schon viel weniger aufregend, nachdem die große Euphorie verflogen ist. Darüberhinaus verfolgt das Stück nicht den Anspruch, eine einzige Lösung für einen solch breiten Themenkomplex zu liefern. Stattdessen soll das junge Publikum sein Verhalten selbst reflektieren und diskutieren.

Haben Jugendliche, die einen persönlichen Bezug zu dem Thema haben könnten,

Benny taucht in die Welt von Philotes ein und vergisst darüber seine eigene. Szene aus Philotes von theaterspiel.

Benny taucht in die Welt von Philotes ein und vergisst darüber seine eigene. Szene aus Philotes von theaterspiel. (Foto: theaterspiel)

überhaupt Interesse an Theater? 

Interessanterweise ergänzt sich das. Natürlich wird auch hier während der Vorstellung getuschelt. Was Philotes aber von den anderen Produktionen unterscheidet: Die Tuscheleien sind stückimmanent. Die Jugendlichen diskutieren zum Beispiel, ob Bennys Mutter zu strenge Vorgaben macht oder erinnern sich an ähnliche Situationen Zuhause, die sie ihrem Sitznachbarn mitteilen. Auch im Nachgespräch gehen so viele Finger nach oben wie sonst selten. Viele fühlen sich als Experten und denken, selbstbewusst Sinnvolles zum Thema beitragen zu können – was auch stimmt. Dass sie Philotes als Theaterstück gesehen haben ist aber ebenso wichtig für das Nachgespräch wie dessen Thema selbst. Die Darstellerinnen und Darsteller diskutieren mit den Jugendlichen, warum sie bestimmte Darstellungsweisen gewählt haben könnten. Philotes bietet eine theatrale Sichtweise auf das Thema an, also wird auch das Theater als Medium mitreflektiert. Eine theatrale Sichtweise bedeutet für mich hier primär eine offene. Der Zuschauer sieht eine konkrete Situation, die er für sich interpretieren, bewerten und im Idealfall mit dem eigenen Handeln in Verbindung setzen kann. Anders eben als nicht minder relevante pädagogische Maßnahmen, die jedoch eher geschlossene Richtlinien oder direkte Handlungsvorschläge beinhalten.

Du selbst hast eine interaktive Website zum Theaterstück konzipiert.

Genau. Mit der Seite möchten wir ein Experiment eingehen. Bei den aktuellen Debatten über Theater im digitalen Raum steht noch immer meist die Inszenierung auf der Bühne im Mittelpunkt. Das Internet dient dann lediglich als virtuelle Litfaßsäule: Ein kurzer Anreißertext zum Stück, ein paar Bilder, ein Trailer und ein Besetzungszettel – mehr findet sich meist nicht. Wir möchten das Thema Theater und Netz jedoch aus einer anderen Richtung angehen. Wir haben eine Internetseite gebaut, die Elemente des Bühnengeschehens ins Netz bringt. Die Seite richtet sich primär an Leute die das Stück schon gesehen haben. Sie greift Motive, Figuren und Konflikte des Stücks auf und bereitet sie für den digitalen Raum auf.

Wie kann man sich das vorstellen?

Jede Figur besitzt eine eigene Seite, die aus einem bildschirmfüllenden Bild besteht. Diese Seiten kann der Nutzer non-linear erforschen. Ähnlich wie in einem Point-and-Click-Adventure klickt er Gegenstände an, woraufhin sich Bilder, Videos oder Texte öffnen. So erschließt sich der Nutzer mosaikartig Hintergründe über die Situation der Figuren, die im Stück selbst vielleicht nur angedeutet oder gar nicht erwähnt werden. Somit kann man das Stück nachbereiten, bestimmte Einzelaspekte noch einmal reflektieren oder vertiefen. Im Blog berichten wir außerdem regelmäßig über unsere Erlebnisse auf Tour. Dort kommen auch die Jugendlichen (und auch Eltern oder Lehrkräfte) zu Wort und können ihre Meinung zu aufgeworfenen Fragen loswerden. So wächst die Seite mit jeder Tour hoffentlich ein Stück weiter und wird eines Tages einen ganzen Pool an Positionen zum Themenkomplex in sich vereinen – ohne, dass wir sagen was richtig und was falsch ist. Denn das war uns bei der Entwicklung ganz wichtig: Einen Bildungsserver mit Infomaterial gibt es schon, das wollen wir nicht sein. Wir spielen Theater und wollen auch im Netz die Jugendlichen mithilfe der Figuren nach ihren eigenen Antworten suchen lassen.

Theater liebt Netz: philotes-spiel.de erweitert das Theaterstück Philotes in den digitalen Raum. (Screenshot der Website)

Theater liebt Netz: philotes-spiel.de erweitert das Theaterstück Philotes in den digitalen Raum. (Screenshot der Website)

Welche Chancen und Risiken siehst du darin, wenn sich die Theater der Digitalisierung öffnen?

Die Funktionsweise des Netzes wird langfristig unsere Denkstrukturen entscheidend beeinflussen. Dieser Prozess hat längst begonnen. In der Schule wird heute wesentlich mehr Wert auf die kritische Auseinandersetzung mit Wissen gelegt, als auf dessen Auswendiglernen. Solchen grundlegenden Veränderungsprozessen muss sich auch das Theater öffnen, wenn es sich als gesellschaftsrelevante Denkfabrik versteht. Das Schauspiel Dortmund probiert verschiedenste Modelle aus, der Digitalisierung theatral zu begegnen – um nur ein Beispiel zu nennen. Ich würde mich freuen, wenn da mehr Häuser ähnlichen Mut hätten, selbst wenn einzelne Projekte am Ende hinter den Erwartungen zurückbleiben sollten.

Liegen in der Digitalisierung Chancen insbesondere für kleine und freie Theater?

Freie Theater sind oft weniger gebunden als die großen Tanker in Düsseldorf, Bochum oder Berlin. Da können eingefahrene Strukturen für ein radikal wirkendes Konzept vielleicht schneller neu gedacht werden. Unser eigenes Projekt ist was das angeht, noch relativ konservativ. Trotzdem stellen auch wir damit als selbstverständlich geltende Annahmen zur Theaterpraxis infrage: Für fast jede Theaterproduktion wird die kreative Arbeit zeitgleich mit der Premiere eingestellt. Unsere Seite aber erfordert kontinuierliche kreative Weiterarbeit an verschiedenen Enden, da sie der Logik des digitalen Raums entsprechend eben nicht abgeschlossen sein kann. Das schließt dann auch finanzielle Fragen mit ein. Wie betreuen wir ein solches Projekt langfristig? Nehmen wir unsere Idee so ernst, dass wir jemanden dafür bezahlen? Gerade die letzte Frage ist im praktischen Arbeitsalltag für viele wohl am härtesten zu beantworten.

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